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Jüdisches Leben in Leipzig

Jüdisches Leben in Deutschland hat eine lange Geschichte. Das erste schriftliche Zeugnis stammt aus dem Jahr 321. Das 1.700-jährige Jubiläum wird 2021 bundesweit mit einem Festjahr begangen. Auch Sachsen hat durch jüdische Menschen einen sehr weitreichenden Aufschwung genommen. Als Händler:innen, Freiheits-kämpfer:innen, Frauenrechtler:innen, Revolutionär:innen, Anwält:innen, Ärzt:innen, Künstler:innen, Wissenschaftler:innen oder Unternehmer:innen u.v.a.m. präg(t)en sie Vergangenheit und Gegenwart.

Früheste Hinweise für jüdisches Leben in Sachsen finden sich im 11. Jahrhundert in Meißen und Altzella.(1) Für Leipzig ist die Anwesenheit jüdischer Mitbewohner:innen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bezeugt, um 1250 existierte eine Siedlung „Judenburg“ außerhalb der Stadtmauern.(2) Nach ihrer Vertreibung erfolgte eine Neuansiedlung in der Mitte des 13. Jahrhunderts.(3) Nachweislich lebten 1364 mindestens drei jüdische Familien in Leipzig. Sie bildeten keine eigene Gemeinde. Demzufolge besaßen sie auch keine der wichtigen sozialen Einrichtungen einer solchen – wie z.B. einen jüdischen Friedhof. (4)

Bis es in den Städten und Gemeinden zum Bau einer zentralen Wasserleitung kam, hatten jüdische Hausfrauen ähnliche Schwierigkeiten wie ihre christlichen Nachbarinnen. Sie mussten das Wasser aus dem eigenen oder einem der öffentlichen Brunnen in ihre Wohnungen tragen, die Wäsche mühsam waschen, sauberes Wasser zum Trinken oder Kochen bereithalten, ihre Kinder baden und die Wohnräume reinigen. Der Aufwand war wegen der sehr detaillierten religiösen Vorschriften in jüdischen Familien größer als in den christlichen. Dies betraf zum Beispiel die genaue Einhaltung der Rituale, der Gebetszeiten und der Speisevorschriften. Jüdische Frauen mussten genau beachten, wo sie Fleisch einkauften, wie sie Geflügel säuberten, welches Gemüse sie auswählten und welche Speisen sie nicht zusammen kochen durften. Gerichte für den Schabbat mussten vorgekocht und haltbar gemacht werden, da (Haus-)Arbeit vom Sonnenuntergang am Freitag bis Sonnenuntergang am Samstag verboten war. Die Befolgung der Lebens- und Speisevorschriften war/ist ein wichtiger Aspekt jüdischen Lebens, die durch ausgrenzende Regelungen der (christlichen) Landesherren oft schwer umzusetzen waren.

Nicht selten war die jüdische Bevölkerung in den mittelalterlichen Städten Ausgrenzungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die teilweise zu gewaltsamen Übergriffen führten. Neben Vorwürfen des Wucherns wurden nach dem ersten Auftreten der Pest in Mitteleuropa 1348/49 Anschuldigungen gegen Mitglieder jüdischer Gemeinden laut, dass sie Brunnen vergiften würden, um auf diese Weise die Pest zu verbreiten. (5) Dies führte in Leipzig 1350 zu schweren Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. So heißt es in den Leipziger Annalen von Johann Jacob Vogel:

In diesem Jahre hat eine erschreckliche und grausame Pestilentz /welche schon die drey Jahre angehalten/allhier heftig grassiret/daß viel Menschen gestorben […] Und weil man die Juden in Verdacht gehabt/ob hätten sie die Brunnen vergifftet/sind dieselben hefftig verfolget/getödtet und in großer Menge umbbracht worden. (6)

Es kam immer wieder zu (religiös-antijüdisch | christlich und sozial-ökonomisch motivierten) gewaltsamen Übergriffen und Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung – insbesondere in Krisenzeiten – sodass es seit der Mitte des 15. Jahrhunderts keine sesshaften jüdischen Menschen mehr in Leipzig gab.(7) Es wurden städtische Privilegien de non tolerandis judaeis erlassen, um die jüdische Bevölkerung der Städte zu verweisen, vor allem um sie als wirtschaftliche Konkurrenz im städtischen Handel auszuschalten, sodass sich im 16. und 17. Jahrhundert nur dreimal jährlich jüdische Kaufleute, Händler:innen und Hausierende zur Messezeit in Leipzig aufhalten durften.(8)

Diese Situation galt bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts war es jüdischen Kaufleuten während der Messezeit gestattet, sich am Leipziger Brühl anzusiedeln. Viele jüdische Händler:innen aus Brody (Nordgalizien), Russland, Ungarn und der ehemaligen polnischen Adelsrepublik kamen über viele Jahrzehnte zum Handel in die Messestadt.(9)

Die jüdischen Mitmenschen in Sachsen wurden der übrigen Bevölkerung zunehmend gleichgestellt. Seit den 1830er Jahren wuchs auch die jüdische Gemeinde in Leipzig. Es zog mehr jüdische Menschen in die weltoffene Handels- und Messe-Stadt. Viele jüdische Bewohner:innen ließen sich im Waldstraßenviertel nieder. Das Waldstraßenviertel wurde – wie andere Gründerzeit-Viertel dieser Stadt – zu dieser Zeit erstmals mit modernen repräsentativen bürgerlichen Wohnhäusern bebaut. Eine lange Zeit lebten und wohnten hier jüdische und nichtjüdische Bewohner:innen in guter Nachbarschaft zusammen.(10)

Am 2. Juni 1847 fand der Gründungsprozess der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig seinen Abschluss. Nach nur einjähriger Planungs- und Bauzeit konnte am 10. September 1855 die Hauptsynagoge in der Gottschedstraße von einem Vertreter des Reformjudentums und jüdischen Gelehrten Rabbiner Adolf (Aron) Jellinek geweiht werden.

Die jüdische Gemeinschaft hatte viele Möglichkeiten in Synagogen, Betstuben und Privatwohnungen zum Gebet zusammenzukommen; und es gab mehrere Rabbiner, die jeweils Orthodoxe, Reform- oder andere Zugehörigkeiten betreuten.

Einer der bekanntesten war der Lehrer und Prediger Rabbiner Dr. Abraham Mayer Goldschmidt, der drei Jahre nach der Einweihung der großen Synagoge mit seiner Frau Henriette Goldschmidt (geb. Benas) und seinen drei Söhnen aus erster Ehe von Warschau nach Leipzig übersiedelte.

Bis heute wirken insbesondere die Aktivitäten jüdischer Frauen auch im Leipziger Stadtbild nach, z.B. das Ariowitsch-Haus oder das Eitingon-
Krankenhaus.

1910 gründete sich die Leipziger Ortsgruppe des Jüdischen Frauenbundes und der mit ihm verbundenen Frauenvereine, die bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten aktiv waren, dazu gehörte der Israelitische Frauenverein, der Frauenverein „Ruth“, der Israelitische Kindergarten, Tagesheim e.V. und der Schwesternbund der Leipzig Loge XXXXIII Nr. 496 des Unabhängigen Ordens Bnai Brith (U.O.B.B.) sowie der Israelitische Spar- und Versicherungsverein für schulentlassene Mädchen, dem auch Männer angehörten.(11)

Der von Henriette Goldschmidt initiierte und geleitete Verein für Familien- und Volkserziehung war interkonfessionell angelegt und kein reiner Frauenverein. Wie andere bürgerliche Frauenvereine leistete auch die Leipziger Vereine der Ortsgruppe des JFB vorrangig ehrenamtliche soziale Arbeit, die durch den Einsatz bezahlter Fachkräfte für bestimmte Aufgaben ergänzt werden konnte. Die Vereine waren für sozial engagierte Frauen durchlässig. Mehrfachmitgliedschaften waren üblich, ebenso das gleichzeitige Mitwirken in anderen Wohltätigkeitsvereinen der Gemeinde.(12)

In den Vereinsleitungen kooperierten überwiegend Frauen aus religiös oder wirtschaftlich einflussreichen Familien. Bis zum Ersten Weltkrieg leisteten die Vereine eine von der Mehrheitsgesellschaft autonome Arbeit der Selbsthilfe, die auch der Existenzsicherung und der Stärkung der jüdischen Community gegen innere und äußere Entwicklungsrisiken diente.(13)

Im Jahr 1925 wohnten in Leipzig 12.594 Menschen jüdischer Konfession.(14) 1931 gab es in der Stadt 17 Synagogen unterschiedlicher Ausrichtungen und Bethäuser – von liberalem über reform-jüdisches bis zu orthodoxem Judentum – sowie acht jüdische Wohltätigkeitsanstalten.

Direkt im Waldstraßenviertel befanden sich zwei weitere Synagogen in der Färberstraße. 1912/13 wurde die Höhere Israelitische Schule in der Gustav-Adolf-Straße 7 durch den Rabbiner Ephraim Carlebach gegründet. 1929 wurde das israelitische Krankenhaus in der Eitingonstraße eröffnet – dass Menschen unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit behandelte. 1931 wurde das Jüdische Altersheim in der Auenstraße, gestiftet durch die Familie Ariowitsch, eröffnet. Einen jüdischen Kindergarten gab es seit 1915.(15) 1929/30 ließ der jüdische Bankier Hans Kroch eine Wohnsiedlung in Neugohlis errichten, die heute zum Sozialen Wohnungsbau gezählt werden würde.

Durch Aktivitäten von völkisch-antisemitischen Gruppen konnte sich auch im 19. Jahrhundert die Feindseligkeit gegenüber jüdischen Menschen verstärkt verbreiten. Es wurde ein nationaler, „rassischer“ Gegensatz zwischen „den Deutschen“ und der ebenfalls deutschen jüdischen Bevölkerung konstruiert. Jüdinnen und Juden wurden fortan nicht mehr allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert, sondern es wurde behauptet, „jüdische“ Eigenschaften wären genetisch festgelegt.(16) Seit 1897 existierten in Leipzig bereits vier Verlage, die antisemitisches Schriftgut publizierten sowie die Zeitschrift „Antisemitische Korrespondenz“.(17)

Nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 durch Wahl an die Macht gelangt waren, führten die wachsende antisemitische Hetze und die ersten antijüdischen Gesetze dazu, dass sich das öffentliche Zusammenleben der Bürger:innen merklich änderte.

Den nichtjüdischen Bürger:innen war es immer weniger erlaubt, jüdische Ärzt:innen und Anwält:innen zu besuchen. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert. „Arische Kund:innen” der jüdischen Groß- und Versandhändler:innen bezahlten die gelieferten Waren nicht mehr, sodass Konkurse und Liquidationen zunahmen. Jüdische Beamte, Lehrer:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Die 1935 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg beschlossenen „Rassengesetze“ diskriminierten die jüdische Bevölkerung noch mehr. Diese Form antisemitischer Ausgrenzung wurde zum Wesensmerkmal der NS-Staatspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung.(18)

Ab Juli 1935 durften jüdische Menschen keine städtischen Bäder mehr benutzen. Der Aufenthalt in Parks wurde auf ein kleines Gebiet beschränkt, sogar das Aufsuchen von Wäldern wurde nicht mehr gestattet. Wenig später wurde jüdischen Menschen der Besuch öffentlicher Einrichtungen (Kinos, Theater, Gaststätten…) endgültig verwehrt. Bereits Mitte 1938 waren circa 70 Prozent der bestehenden jüdischen Betriebe nicht mehr in jüdischem Besitz.(19)

Immer mehr jüdische Menschen sahen ihre einzige (Über-)Lebensmöglichkeit darin, Deutschland zu verlassen, was jedoch mit bürokratischen Hürden sowie notwendigen finanziellen Mitteln verbunden war. Einige Familien versuchten ihre Kinder mit „Kindertransporten“ – organisiert durch die Reichsvertretung der Juden in Deutschland – nach England oder Dänemark in Sicherheit zu bringen.

Im Oktober 1938 wurde deutschlandweit die kurzfristige Abschiebung von rund 17.000 jüdischen Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit veranlasst: die sogenannte „Polenaktion“. (20) Das Leipziger Eitingon-Krankenhaus nahm etwa 200 polnische Juden und Jüdinnen als Patienten auf, um sie vor den Abschiebungen zu bewahren. (21)

In der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurden auch in Leipzig Synagogen und jüdische Einrichtungen in Brand gesteckt. Jüdische Menschen wurden misshandelt und verschleppt, ihre Wohnungen und Geschäfte zerstört und geplündert. Die großen Synagogen in der Gottschedstraße und der Otto-Schill-Straße wurden niedergebrannt; die kleineren Synagogen und Betstuben waren zertrümmert. Lediglich die Synagoge in der Keilstraße, die sich zwischen zwei Wohnhäusern befand, wurde nicht angezündet, jedoch wurde sie im Inneren völlig geplündert, entweiht und schließlich als Lagerhaus missbraucht.(22) Polizei und Feuerwehr wurden offiziell angewiesen bei den Ausschreitungen nicht einzugreifen und jüdische Personen, die Widerstand leisteten, sofort zu erschießen.
An der Parthebrücke in der Pfaffendorfer Straße trieb die Gestapo am Abend des 9. November 1938 hunderte jüdische Menschen zusammen, und verschleppte sie nur einen Tag später in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen.(23)

Bis zum Ende des Jahres 1938 war Jüd:innen in Deutschland weitgehend ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen worden und die strukturelle- und gesellschaftliche Isolierung weit fortgeschritten. Aus vielen beruflichen Bereichen waren sie fast vollständig verdrängt. Aufgrund der Verordnung zum „Geschlossenen Arbeitseinsatz“ wurden viele jüdische Menschen zur Zwangsarbeit verpflichtet. Leipzig war die erste Großstadt in Deutschland, die im Frühjahr 1940 eine Arbeitspflicht für jüdische Menschen einführte.(24)

Auch aus ihren Wohnungen verdrängte man die jüdische Bevölkerung, als im April 1939 der gesetzliche Mieterschutz für die jüdische Bevölkerung gesetzlich aufgehoben wurde. Vermieter:innen konnten ohne weiteres ein Mietverhältnis unter „Einhaltung der Fristen“ kündigen. Künftig sollten Jüd:innen in vorbestimmten Wohnvierteln und Wohnhäusern sogenannten „Juden-Häusern“ untergebracht werden.(25) Anfang der 1940er Jahre wurde die Carlebachschule zum größten „Judenhaus” von Leipzig. Jüdischer Besitz wurde beschlagnahmt. In Leipzig war unter anderem die Auktionsfirma Klemm damit beauftragt, das zurückgebliebene Inventar abzuholen und zu versteigern. Die versteigerten Gegenstände landeten in den Wohnungen und Häusern nicht-jüdischer Deutscher. Den Erlös verleibte sich der NS-Staat ein.(26)
https://www.zum.de/Faecher/G/BW/neuzeit/zwanz/ns/jdhaus2.htm

1942 begannen in Leipzig die Deportationen jüdischer Menschen nach Riga.(27) Mit dem ersten Deportationszug am 21. Januar gelangten 563 Personen aus Leipzig nach Riga. Mit der vierten Deportation aus Leipzig wurde das Altersheim Auenstraße “geleert”; danach diente es als Gestapohauptquartier.(28) Am 14. Februar 1945 erfolgte der letzte Transport von Leipzig in das Konzentrationslager Theresienstadt. Insgesamt wurden in neun Deportationszügen circa 2.000 jüdische Menschen aus Leipzig deportiert, von denen nur 220 überlebten.(29)

Als Leipzig am 18. April 1945 von den Alliierten befreit wurde, lebten noch 19 Mitglieder der Israelitischen Gemeinde in Leipzig. (30)

Nach 1945 kehrten circa 250 Überlebende des Holocaust nach Leipzig zurück.
Das vielfältige jüdische Leben und seine Infrastruktur war vernichtet; Familien auseinandergerissen und durch Verfolgung und Auswanderung in alle Welt vertrieben oder in Konzentrationslagern ermordet worden.

Die wenigen jüdischen Menschen in Leipzig gründeten die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig neu. Bald fanden sie Unterstützung durch zurückkehrende und neu hinzuziehende jüdische Überlebende. Im Jahre 1949 zählte die Gemeinde 340 Personen.(31)

Durch die teils offen antisemitische Politik der DDR-Regierung auch in der Folge der Slansky-Prozesse verließen erneut viele jüdische Bürger:innen Leipzig. In der Folge dieses Aderlasses waren 1989 in der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig nur noch 29 Menschen registriert. (32)

Der Zuzug von „Kontingent-Flüchtlingen aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion ermöglichte seit den 1990er Jahren die Wiederbelebung jüdischen Lebens in der Messestadt. Heute ist die Gemeinde mit circa 1.300 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde in Sachsen.

Mit dem Lehrhaus Beth Etz Chaim unter Leitung der Rabbinerin Esther Jonas-Märtin gibt es nun auch wieder eine liberale Gemeinschaft in Leipzig, die Anklänge an die ehemals jüdische Vielstimmigkeit hör- und erlebbar macht.

Mehrere Vereine und Stiftungen widmen sich in vielfältiger Weise der Gedenk- und Erinnerungsarbeit jüdischen Lebens in Leipzig – unter anderem mit den aller zwei Jahre stattfindenden Jüdischen Wochen.
https://www.leipzig.de/freizeit-kultur-und-tourismus/veranstaltungen-und-termine/jubilaeen-und-festivals/juedische-woche/

Fußnoten

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